Gefühle sehen und annehmen

von | 20. Mai 2022

Interview mit Dorothea Fürst-Liess in der Münsterschen Zeitung (Beilage Moritz Mai 2022)

Kinder bringen Eltern oft an ihre Grenzen. Dann kann es passieren, dass Mama und Papa so reagieren, wie sie es gar nicht wollen.  Oder sie finden sich ungewollt im  Erziehungsstil ihrer eigenen Eltern wieder. „In jeder Kindheit entstehen Denk-, Verhaltens- und Gefühlsmuster“, erklärt Dorothea Fürst-Liess. Sie ist Familientherapeutin in Münster. „Diese Muster sind unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie haben uns geholfen, in der Ursprungsfamilie klarzukommen.“ Sie können uns jedoch im Erwachsenenleben im Wege stehen.

„Zum Beispiel durften Kinder ihre Gefühle nicht zeigen oder wurden nur nach Leistung bewertet“, weiß Dorothea Fürst-Liess aus ihrer Tätigkeit als Familientherapeutin. Zeigt nun das Kind starke Gefühle, könne das den Schmerz von früher triggern, der Gefühlsausbruch des Kindes erinnere die Erwachsenen unterbewusst an den eigenen Schmerz. „Situationen mit unseren Kindern können diese Gefühle in uns wachrufen. Die Trauer, dass man beispielsweise seine eigenen Gefühle nicht zeigen durfte, kommt wieder hoch. Wir reagieren wie aus heiterem Himmel  wütend,  panisch  oder  enttäuscht“, sagt die Familientherapeutin.

Es kommt zu einem emotionalen Kurzschluss. Die Eltern reagieren über. Durch Wut versuchen Menschen schmerzhafte Gefühle wie Verzweiflung, Sehnsucht  und Ohnmacht zu überdecken. Die elterliche Reaktion hat in diesen Momenten     nichts  mehr  mit dem Kind zu tun, sondern mit der eigenen Vergangenheit. „Die Bedürftigkeit meines Kindes kann mich an meine  eigene  Bedürftigkeit erinnern“, erläutert Dorothea Fürst-Liess. „Unsere Kinder können längst vergessene Gefühle wie Verzweiflung oder Sehnsucht in uns wecken.“ Das ist kein bewusster Prozess. In manchen Familien werden diese Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster über Generationen weitergegeben.

Wichtig sei es, dass sich Mütter und Väter nicht für diese Muster verurteilen. „In der Herkunftsfamilie haben sie uns schließlich geholfen“, sagt Dorothea Fürst-Liess. Wer auf Spurensuche geht, beobachtet, welche Situationen aufregen, schaffe bereits einen positiven Effekt. Wichtig sei, den Punkt wahrzunehmen, der die Gefühle auslöst – und dann aus der Situation zu gehen, um sich zu beruhigen. „Man kann einen Schluck Wasser trinken, sich auf die Ausatmung konzentrieren oder sich erden, indem man beide Füße auf dem Boden spürt“, zählt Dorothea Fürst-Liess auf. Es geht darum, die Reaktion von der Situation zu entkoppeln. Die Forschungsreise in die eigene Gefühlswelt ist ein Prozess – und er dauert.

„Aber es lohnt sich“, sagt Dorothea Fürst-Liess, „denn nur wer seine eigenen Gefühle wahrnimmt und annimmt, kann dies auch bei seinem Kind tun.“

Buch-Tipp

In  „Das  Kind  in  dir muss Heimat finden.“ (Kailash Verlag) erarbeitet Autorin Stefanie Stahl, wie sich negative Glaubenssätze und belastende Gefühle umwandeln lassen, damit sie uns in den heutigen Beziehungen nicht im Wege stehen.

Mit freundlicher Genehmigung des Aschendorff Verlages

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